11.01.2025
19. Spieltag Primera División
Sevilla FC - Valencia CF
Estadio Ramón Sánchez Pizjuán
Endergebnis: 1:1 (0:0)
Zuschauer: 34.297 (250 Gäste)
Ticket: 45€
Viel Schlaf war nach der späten Rückkehr aus Gibraltar zwar nicht drin, doch spätestens die Sobrasada auf den frischen Brötchen am Morgen weckte die Lebensgeister und somit auch die Vorfreude auf den ersten Tag Sevilla in uns. Daher ging es auch zeitig hinaus in die Straßen der Hauptstadt Andalusiens, für deren Erkundung auch in den Folgetagen keinerlei öffentliche Verkehrsmittel von Nöten waren. Das U-Bahnnetz wird noch gebaut und die Buslinien schaffen es sowieso nicht durch die engen Gassen, entsprechend hoch die Zahl der weggeschrubbten Kilometer während des gesamten Trips.
Von unserem Plaza Alameda de Hércules ging es fortan südlich, stets durch die kleinen, idyllischen Gassen und entlang einiger Plätze, die, wie auch sämtliche andere Straßen, nur so von, von Früchten ächzenden, Orangenbäumen gesäumt wurden. Mit den Setas (die Pilze, eine neu errichtete Markthalle mit großem, hölzernen Dachkonstrukt) erblickten wir schnell eines der architektonischen Highlights der Altstadt, die zudem mit unzähligen kleinen und großen Kirchen glänzte, die allesamt an diesem Samstag der Öffentlichkeit zugänglich waren. An jeder Ecke warben kleine Tapas-Bars um Kundschaft, während auch sonst überall irgendwelche Leckereien zum Probieren einluden. Auch ohne die großen Anziehungspunkte der Stadt überhaupt zu Gesicht bekommen zu haben, gefiel uns schon jetzt das Gefühl purer Lebensfreude, das die Stadt mit jeder Faser ausstrahlte.
Da wir aber auch noch zwei volle Tage hier verbringen würden, sparten wir uns Kathedrale und co. für eben jene Tage auf und liefen am Nachmittag wieder zurück in den Stadtteil Feria, wo wir uns auf unserem Plaza vor einer schicken Tapas-Bar niederließen. Tinto de Verano, Cervezas vom Fass und etliche Tapas wanderten in den folgenden Stunden über unseren Tisch und hinein in die Mägen, während sich über uns erstmals die Sonne durch den sonst grauen Himmel kämpfte. Spanien, wie wir es lieben und wofür wir immer wieder gerne auf die iberische Halbinsel reisen!
Am Abend stand nun der fußballerische Part an, wobei der Anpfiff um 21 Uhr keinerlei Hektik erforderte. Entsprechend gesättigt von der mehrstündigen Tapas-Orgie ging es irgendwann nach sieben per Pedes auf den Weg gen Stadtteil Nervión, in dem die Heimspielstätte des roten Clubs aus Sevilla beheimatet ist. Gerade den Hauptbahnhof passiert, liefen wir augenscheinlich der Szene der Hausherren über den Weg und lauschten für ein paar Momente dem Einsingen eines neuen Liedes auf einem gegenüberliegenden Platz, was schonmal ein wenig die Erwartungshaltung auf den Abend erhöhte. Wobei, so ehrlich bin ich mit mir selbst: nach Spanien fahre ich für monumentale Stadien, schicke Städte, Strände und das generelle Lebensgefühl. In Sachen Stimmung erwarte ich generell überhaupt nichts. Umso mehr freuten wir uns daher über die Anwesenheit einer Szene.
Einige hundert Meter waren es noch, ehe schließlich rote Neon-Streifen zwischen zwei Häuserblöcken hervorlugten und bereits von weitem die Umgebung in die Vereinsfarben des Sevilla FC tauchten. Fix über die Straße und schon lag diese geile Bude vor uns: Das Estadio Ramón Sánchez Pizjuán. Imposant war alleine schon die Fassade rundherum, wobei vor allem die riesige Keramik am Eingang der Haupttribüne beeindruckte. Und die Begeisterung stieg, nach fixem Stopp in der Tienda zwecks Schalkauf, beim Anblick des Inneren ins unermessliche. Egal ob aus Perspektive des Unterrangs oder auch von unseren Plätzen in Block S43 darüber: Was für eine monumentale Schüssel! Unfassbar steil ziehen sich die beiden Ränge einmal um das gepflegte Grün, Wellenbrecher oder auch nur irgendeine Absturzsicherung suchte man dabei vergebens. Hätte ich mir durchaus hier und da gewünscht, denn ganz schwindelfrei bin ich nicht.
Vorsichtig ging’s daher über die schmalen Wege zu unseren Plätzen, die eine astreine Perspektive auf den All-Seater offerierten. Rot war auch im Inneren die dominante Farbe, während lediglich ein Teil der Haupttribüne überdacht wurde. Ein typisch, spanischer Bau mit insgesamt 43.833 Plätzen, der seit 1958 als Heimstätte Sevillas dient und seitdem als Bühne für großartige Spiele herhielt. Benannt nach einem ehemaligen Präsidenten des Clubs, erlebten die Traversen u.a. das große WM-Halbfinale 1982 zwischen Deutschland und Frankreich, den einzigen europäischen Titelgewinn einer rumänischen Mannschaft 1986 sowie, mit Blick auf die jüngere Vergangenheit, die europäische Krönung der Frankfurter Eintracht 2022. Im Zuge des derzeitigen Neubau-Booms auf der iberischen Halbinsel sind allerdings die Tage der Schüssel in ihrer derzeitigen Form gezählt: Ab 2026 schließt das Stadion für zwei Jahre seine Pforten und wird nahezu neu errichtet. Schade drum, denn der Anblick unter Flutlicht war einfach phantastisch.
So phantastisch wie die Erfolgshistorie des Clubs selbst, der in der Vergangenheit insbesondere auf internationalem Paket Erfolge um Erfolge feierte. Zwischen 2006 und 2023 konnten sieben von sieben Finalteilnahmen in der Europa League (inklusive dem vorherigen UEFA Cup) erfolgreich gestaltet werden, was den 1890 gegründeten Club in diesem Wettbewerb zum mit weitem Abstand alleinigen Rekordhalter macht. National ist die Titelsammlung hingegen etwas dünner, zieren doch lediglich fünf Pokalsiege sowie der Meistertitel aus dem Jahr 1946 den Trophäenschrank. Dennoch gehören die Rot-Weißen, mit ganz wenigen Jahren der Unterbrechungen in den 1930ern, 70ern sowie Ende der 90er, zum Inventar der höchsten, spanischen Spielklasse.
Ausgerechnet in den eher erfolglosen Zeiten der 1970er gründete sich jedoch eine Institution auf den Traversen, die das Geschehen auf den Rängen des Nordens des Stadions verändern sollte: 1975 entstand mit der Biris Norte die erste Ultragruppe Spaniens, die bis zum heutigen Tag besteht und somit in diesem Jahr ihren 50. Geburtstag feiern wird. Große Hochachtung für alle, die diese Passion in einem so von Fußball-Repression strotzendem Land wie Spanien noch ausleben!
Gespannt waren wir entsprechend auf den Auftritt der im Unterrang der Nordtribüne angesiedelten Gruppe, suchten zu Beginn jedoch Zaunfahnen vergebens. Im Schatten der ausufernden Lichtershow vor Anpfiff wurden dafür Vorbereitungen für eine Choreo ausgemacht, die mit dem Einlaufen der Mannschaften über die volle Breite der Kurve erstrahlte: Ein detailliert gemalter Joker-Kopf in Lederjacke erstrahlte als Blockfahne im Oberrang, sein rot-weißer Schal entsprechend darunter. Umrahmt wurde das schöne Gesamtbild von einer das gesamte Stadion umspannenden Schalparade sowie dem auf großen Lettern abgebildeten Spruch: Los edificios arden, las personas mueren – El amor verdadero es para siempre („Häuser brennen, Menschen sterben – Wahre Liebe währt für immer“). Ein beeindruckendes Bild, das im Unterrang zudem mit zahlreichen kleinen und mittelgroßen Schwenkfahnen über die gesamte Breite abgerundet wurde. Dazu hallte in a cappella die melodische Vereinshymne aus zehntausenden Kehlen durch das weite Rund. Erwischte uns eiskalt und verlieht absolute Gänsehaut.
Der Anpfiff ertönte, die Choreo verschwand und die Spannung stieg mit Blick auf die Kurve. War’s das? Oder gehen hier vielleicht 100-150 Leute ab wie in Barcelona, Valencia oder Elche? Weit gefehlt, aber ganz weit. Der Capo erklomm im mittleren Bereich des Blocks sein Podest, machte eine kurze Ansage und einen Moment später schnellten tausende Hände in Richtung des dunklen Nachthimmels. Der Mob reichte beinahe von Eckfahne bis Eckfahne und blies uns mit einem kurzen Einklatschen, gefolgt von einem ersten Lied auf die Melodie der Marseillaise, beinahe von den Sitzen. Junge, Junge, was ging denn hier ab?
Mit einer für Spanien unfassbaren Lautstärke gab der Haufen sein Liedgut, in das auch oft weitere Teile des Stadions mit einstiegen, zum besten, ließ dabei gar südamerikanische Klänge aufhorchen, interpretierte „Go West“ um und sang eingängig auf eine Melodie, die große Ähnlichkeiten zu Vayamos compañeros hatte. Wir waren begeistert. Dann, vielleicht 15 Minuten nach Anpfiff, verstummte die Kurve kurz und lauschte erneut ihrem Capo, nur um unter tosendem Beifall die Zaunfahnen zu hissen. Im mittleren Bereich war es eine schlichte „Ultras“ Fahne, die wenig später von den Fetzen der befreundeten Ultras aus Xerez (Kolectivo Sur vom Fanverein Xerez Deportivo, nicht vom ursprünglichen Xerez CD aus der gleichen Liga) sowie vom FC Modena aus Italien umrahmt wurde. An vorderster Front prangte die große Hauptfahne Guardianes de Nervion, zu der sich bis zur 30. Minute zahlreiche weitere Fahnen (u.a. Cerro Boys, Gate 22, Youth Army, La vieja Guardia) gesellten. Zudem erschienen immer mehr große Schwenkfahnen mit alten Vereins- und Gruppenlogos in der Kurve, die selbige in ein echtes Fahnenmeer verwandelte. Für mich die bisher beste Kurve, die ich jemals in Spanien zu Gesicht bekam. Optisch wie akustisch. Das war wirklich stark!
Von den respektablen 250 Gästen, die die knapp sieben Stunden einfache Strecke trotz Anstoßzeit um 21 Uhr abrissen, kam hingegen recht wenig. Einzig beim weiterhin aktiven Protest gegen Clubeigentümer Peter Lim, in den auch die Heimseite mit einstieg, wurde es kurz laut. Sonst dominierten die neongelben „Lim Go Home“-Plakate den überschaubaren Gästeblock.
Sportlich deutete bereits die tabellarische Ausgangslage (Sevilla im unteren Drittel, Valencia gar unterm Strich) nicht wirklich auf einen Leckerbissen hin, doch das Gebotene beider Teams war einfach nur frech. Richtig mieser Fußball. Als spielten beide Seiten gleichzeitig gegen den eigenen Trainer. Da halfen auch die beiden Tore im zweiten Durchgang wenig, denn Punkte hätte aus dieser Partie keiner von beiden verdient gehabt. Entsprechend gerechtfertigt ging der Schlusspfiff in einem gellenden Pfeifkonzert unter, flankiert vom lauten Protest beider Seiten gegen die jeweilige Vereinsführung. Irgendwie erschreckend, was derzeit für große Namen im spanischen Fußball in Richtung Zweit- und Drittklassigkeit taumeln… Noch immer schwer beeindruckt vom gerade erlebten verblieben wir noch eine Weile auf unseren Sitzen und schauten ein letztes Mal durch die sich schnell leerende Schüssel, ehe dichte Nebelschwaden so langsam ins Innere schwappten. Streng bemüht, nicht über die Berge angeknabberter Schalen von Sonnenblumenkerne zu rutschen, ging es schließlich wieder nach Draußen und erneut auf die gut 45 Minuten Fußmarsch zurück in unser Viertel. Grandioser Kick, der Lust auf mehr machte!
Gleiches galt für die Stadt selbst, der wir zwar tags drauf aufgrund des Ausflugs nach Córdoba erneut den Rücken kehrten, dafür aber montags und dienstags in Gänze erkundeten. Kathedrale, Königspalast und Altstadt machten einen schönen Eindruck, doch unser persönliches Highlight befindet sich inmitten des Parque de María Luisa: Der Plaza de España. Einst für eine Art Weltausstellung der spanischen Kolonien im Jahr 1929 als spanischer Pavillon errichtet, beeindruckte uns nicht nur das Gebäude samt künstlich angelegtem Kanal, sondern das gesamte Areal mit seiner einmaligen Architektur. Wirklich paradiesisch, wobei die warmen Sonnenstrahlen vom tiefblauen Himmel sicherlich zum Wohlfühlfaktor beitrugen.
Ebenso interessant war der Rundgang um das Gelände der Expo 1992 auf der Insel La Cartuja westlich der Altstadt und knapp südlich des gleichnamigen Stadions. Neben großen Satellitenschüsseln steht hier ein Modell einer Ariane 4 Trägerrakete im alten Expo-Areal, das mehr oder weniger seit Beendigung der Ausstellung verfällt. Da könntest du ohne große Anpassungen irgendwelche post-apokalyptische Streifen drehen. Ein kurzer Rundgang lohnt sich dennoch, genauso wie durchs Viertel Triana, der vermeintlichen Geburtsstätte des Flamenco. Und von der kulinarischen Seite brauch ich wohl gar nicht erst anzufangen. Tapas, Churros, Sherry und sevillianischer Orangenwein – Schlemmen lässt es sich in der andalusischen Hauptstadt hervorragend! Insgesamt war Sevilla bisher unser absolutes Highlight auf der iberischen Halbinsel und wird in Zukunft sicherlich noch einmal angesteuert. Gründe dafür gibt’s ja mehr als genug!