03.12.2022
20. Spieltag Football League Two
AFC Wimbledon - Grimsby Town FC
Plough Lane
Endergebnis: 1:0 (0:0)
Zuschauer: 7.962 (1.071 Gäste)
Fotoalbum
Um die letzten 1,5 Urlaubstage des Jahres sinnvoll zu nutzen, durchforstete ich bereits Ende Oktober die Spielpläne des In- und Auslandes nach Alternativen zur Quatsch-WM in der Wüste. Gar nicht mal so einfach, insbesondere aufgrund der überschaubaren Aufenthaltsdauer. Berlin stand eigentlich relativ lange hoch im Kurs, doch die Umzugsankündigung der Schwiegereltern innerhalb Englands ließen die Blicke zum dritten Mal in diesem Jahr auf die Insel schweifen. Winchester im Süden sollte es werden, also hier angekündigt, Flüge via Lufthansa gebucht und mit einem Heimspiel des AFC Wimbledon das einzig sinnvolle Spiel des Wochenendes eingetütet. Rest des Wochenendes bisschen entspannen und Zeit mit der Familie verbringen, passt auch gut in die weihnachtliche Stimmung.
Freitagmittag ging’s schließlich los zum Frankfurter Flughafen, der mit wirklich seltener Leere glänzte. Kaum Schlangen, egal wo man hinsah. Den plötzlich vorhandenen Puffer, der durch die Verspätung unseres Fluges zusätzlich anstieg, noch fix für ein Bierchen genutzt, brachte uns der Kranich in einer guten Stunde nach Heathrow. Dort ebenso fix durch die Kontrollen und vom Terminal 2 zur neuen Elisabeth-Line gelatscht, die uns für heftige 13£ pro Nase in die Innenstadt bugsierte. Nächste Mal wieder mit der guten, alten Piccadilly Line. Ziel war für den Abend das taiwanesische Restaurant Din Tai Fung in der Shopping-Mall Selfridges, die im Inneren doch stark ans KaDeWe erinnerte. Nebenan pries sich ein Laden als „Most Instagramable Café“ Londons an, während man generell beim vorhandenen Publikum die Nase rümpfte. Die Engländer und ihre orangefarbenen Hautsprays, dazu Augenbrauen so dick wie manch Bizeps der Begleitungen. Keine Ahnung, welche Substanzen die sich hier morgens in ihren Tee rühren…
Futter war dagegen wie immer in dem Laden vorzüglich und weckte nostalgische Erinnerungen ans ferne Taiwan, sodass es gesättigt und glücklich auf die gut zweistündige Autofahrt durch die Rushhour nach Winchester ging. Zwar mehr oder weniger ein deutlicher Umweg, da es am nächsten Morgen ja wieder nach London ging, doch bei den aktuellen Preisen spare ich mir einen Hotelaufenthalt in der Hauptstadt gerne.
Entsprechend riss uns das Klingeln des Weckers am frühen Samstagmorgen recht holprig aus dem viel zu kurzen Schlaf, denn der eigentlich für 15.00 Uhr angesetzte Kick wurde in der Woche zuvor kurzerhand auf 12.30 vorverlegt. Somit noch etwas grimmig dünnen Kaffee und Scones als Frühstück reingeschoben und so leise wie möglich in Richtung Bahnhof verduftet. Ist ja schließlich Samstag, da will man die Verwandtschaft nicht zu unchristlichen Zeiten mit dem Thema Fussball belästigen. Kurze Strecke zu Fuß und wir erreichten den kleinen Bahnhof von Winchester, der zur völligen Überraschung mehr als gut gefüllt war. Somit die im Vorfeld gekauften Tickets am Automaten gezogen (mit der Two-Togehter-Card spart man bei jeder Fahrt zu Zweit ein Drittel des Preises, was die Kosten für den englischen ÖPNV zumindest etwas erträglicher macht), einen weiteren Café von Costa mitgenommen und am Bahnsteig positioniert.
Abfahrt 9.18 Uhr stand an, Zug sollte also in zehn Minuten kommen… Dann flatterte die erste Verspätungsmeldung über die Bildschirme, wenig später über die Lautsprecher. Dann die Nächste, und wenig später noch eine. Am Ende zeigte unser Zug mit Ziel London Waterloo eine gut 45 Minuten spätere Abfahrtszeit an, was uns am Ende eine Stunde auf dem Bahnsteig hocken ließ. Da stehen die Engländer dem deutschen Pendant auf der Schiene in absolut Nichts nach. Immerhin die Informationslage ist auf der Insel deutlich transparenter – da wird wirklich jede noch so kleine Kleinigkeit vorher erwähnt, wie z.B. wo sich der Zug gerade befindet. Im Endeffekt wurde es schließlich der spätere Zug, der selbstredend nur mit der halben Anzahl an Wägen vorfuhr und somit zur miefenden Sardinenbüchse mutierte. Wir schlugen uns immerhin noch zu einem Stehplatz im Wageninneren durch, während gut die Hälfte der Anwesenden auf einen nächsten Zug vertröstet wurden. Heiteres Gelächter bei der resignierten Ansage des Lokführers: „Apologies for overcrowding, there will be another train – sometime in the future – maybe”.
Wegen der ganzen Verspätung verpassten wir selbstverständlich auch unseren Anschlusszug in Woking, weshalb auch hier wieder Warten angesagt war, ehe uns der nächste vollgepackte Wagen endlich nach Wimbledon brachte. Eine weitere halbe Stunde zu Fuß waren nun nötig, vorbei am Denkmal des alten Stadions, ehe wir 15 Minuten vor Anpfiff das Stadionumfeld erreichten – eingeplant waren eigentlich neunzig Minuten Puffer… Aber hej, immerhin hats geklappt! Ich sah uns schon auf halber Strecke den Blick auf einen alternativen Bumskick werfen. So aber ging’s in Richtung der Einlässe der von Wohnhäusern umgebenen, neuen Plough Lane. Schlange kurz, Prozedur fix, keine Kontrollen. Also noch Zeit um die hungrigen Mägen zu stillen, was mit einem Truthahn/Cranberry-Pie auch gut gelang. Dazu leider nur Cola, damit es wenigstens gleich in die Bude gehen konnte. Rein in Block 120 des East Stands, Plätze bezogen und durchatmen.
Da waren wir nun, beim weltbekannten AFC Wimbledon. Ein Verein, der sinnbildlich für alles steht, was im großen Geschäft namens Fussball schief läuft. Ursprünglich existierte mit dem FC Wimbledon ein 1889 gegründeter Traditionsverein, der seine Wurzeln mehr im Amateurbereich verortet. Erst 1964 erfolgte die Aufnahme in die Profiligen des englischen Fußballs, in dem die „Wombles“ in den folgenden Jahren ihre Spuren hinterließen. Nach steilem Aufstieg folgten ab 1986 etliche Jahre in der Premier League, stets im krassen Kontrast zwischen Kampf um Europa und Abstiegsplätzen. 1988 gelang mit dem Gewinn des FA Cups der größte Erfolg der Vereinsgeschichte, ehe ab 2000 mit dem Abstieg aus der Erstklassigkeit der Niedergang der Blau-Gelben begann. Es folgte die wohl umstrittenste Management-Entscheidung des englischen Fußballs: Der Verein sollte London verlassen und nach Milton Keynes ziehen, einer Planstadt in Buckinghamshire. Es folgten weitere Brüche von Versprechungen durch den Präsidenten, der den Club schließlich in „MK Dons“ umbenannte und somit nur noch den Spitznamen statt dem ausgeschriebenen „Wimbledon“ verwendete. Ebenso wurde als Gründungsjahr mit 2004 eben jenes Jahr genannt, in dem der finanziell angeschlagene FC Wimbledon endgültig insolvent ging und schließlich von der Fußballlandkarte verschwand.
Im Süden Londons wandte man sich allerdings schon früh des vom Verband als offiziellen Nachfolger anerkannten Vereins ab und gründete am 28. Mai 2002 einen neuen Stadtteilverein: Den AFC Wimbledon. Man sicherte sich Namen und Logo und lernte aus den Fehlern der Vergangenheit, insbesondere einer Person die vollen Befugnisse auszusprechen. Somit befindet sich der neue Club nun im Besitz des „Dons Trust“, einer von den Fans errichteten Non-Profit-Organisation, in der jedes Mitglied genau eine Stimme hat. Zusätzlich zeigte man sich bei der Namensgebung erfinderisch, denn während AFC üblicherweise für Athletic Football Club steht, bedeutet es hier „A Fan’s Club“. Bis heute ist der Verein großes Beispiel für alle Fans von Manchester bis Salzburg, denen das gleiche Schicksal widerfahren ist.
Für den neuen Club folgten Jahre des steilen Aufstiegs durch die Londoner Amateurligen, ehe 2011 mit dem Einzug in die Football League Two die Rückkehr in den Profifußball gefeiert werden konnte. Seit dem ist der Club mal in der dritten Liga, mal wieder in der vierten Klasse anzutreffen und kickte einige Male gegen den verhassten Club aus Milton Keynes, spielte gar eine Spielzeit höherklassiger. Derzeit sind die Dons im Mittelfeld der Football League Two anzutreffen, eher mit Blick nach oben. Gespannt wie lange nicht mehr war ich deswegen auf den Besuch bei dem so geschichtsträchtigen Club, bei dieser ausdauernden Kraft der Fans, bei diesem lebenden Beispiel, dass nicht nur Geld den Sport regiert.
Doch das Erlebte spiegelte die hohen Erwartungen nur bedingt wieder, denn der Spieltagsbesuch war in meinen Augen absoluter englischer Standard. Zum einen wäre da die 2020 neu eröffnete Plough Lane, die den neuen Club endlich in seine angestammte Heimat zurückkehren ließ. Nur 200 Meter vom ursprünglichen Ground errichtet und mit 9.300 Plätzen in der perfekten Größe für die aktuellen Gegebenheiten ausgelegt. Einzig wirklich standhafte Tribüne ist allerdings die Haupttribüne samt kleiner Kurve im Westen, die mit Logen doppelstöckig ausgebaut wurde. Der Rest besteht aus 11 überdachten Sitzreihen aus Stahlrohr, im Süden immerhin mit den neuerdings erlaubten Safe Standing Plätzen. Alles eher provisorisch auf die Hoffnung ausgelegt, nach sportlichem Erfolg hier bald auf die maximal erlaubten 20.000 ausbauen zu dürfen.
Bis dahin dominieren Häuserfassaden ohne Fenster die Szenerie, die auch die Anhänger der Wombles nicht wirklich akustisch aufhellen konnten. Zwar schien die Anzahl Sangeswilliger im Süden recht hoch, doch übte man sich tatsächlich wie anderswo auch primär im Schweigen. Eine adaptierte Version von „Allez Allez Allez“ (Two times out of non-league, we’re never gonna stop. From franchise to the FA, we beat the fucking lot. From Batsford to Dave Basset, at Plough Lane we belong. We’re loyal supporters and we come from Wimbledon! Allez allez allez!) blieb aufgrund des Textes noch in Erinnerung, des Rest war Insel-Standard. Hätte ich etwas mehr erwartet, aber ist eben immer noch England. Dazu passte auch das Maskottchen, dass mit blauer Mülltonne rumlief um Stimmung zu machen. Das alles soll allerdings keinesfalls meinen allergrößten Respekt vor dem Mut und der Aufopferungsbereitschaft der Anhänger schmälern, die ihrem Herzensverein wieder neues Leben einhauchten!
Positiv angetan war man dagegen von der Zahl angereister Gäste aus Grimsby. Mehr als 1.000 Nordlichter legten die 4,5 Stunden auf einen frühen Samstagmittag zurück, was für die Ligazugehörigkeit und die Größe des Clubs wahrlich Spitze ist! Gesanglich ging jedoch auch hier nicht viel, wenngleich sich die Gäste wie üblich etwas aktiver zeigten. Schlachtruf der Mariners im Übrigen einfach nur „Fish!“.
Sportlich eher mäßiger Start in die Partie, die erst nach einer halben Stunde in die Gänge kam. Danach unterhaltsames Hin und Her, dass kurz vor der Pause durch eine lange Verletzungsunterbrechung aufgrund eines unsanft gelandeten Gästeakteurs länger unterbrochen wurde. Stadion somit bereits gesammelt am Bierstand, als es für die letzten zwei Minuten schließlich weiter ging. Im zweiten Durchgang waren es die Hausherren, die das leichte Chancenplus nutzten und zum verdienten Heimsieg trafen. Selbstverständlich wurde es am Ende etwas hitziger, doch bis auf die üblichen Schmähgesänge und wildes Rumfuchteln passierte nichts mehr.
Die Blau-Gelben waren somit um drei Punkte reicher, wir hingegen um die Einsicht, dass hier dann doch nicht die ganz große Euphorie aus allen Ecken trieft. Einen traditionellen Balken-Schal sackten wir dennoch beim Rausgehen ein und machten uns schließlich in der auffrischenden Kälte auf den Weg zum Bahnhof. Dort bei Krispy Kreme die in Kringelform gegossenen Köstlichkeiten eingetütet und nach Umstieg in Clapham Junction endlich Sitzplätze in einem Zug eingenommen. Eine unspektakuläre Stunde später erreichten wir wieder Winchester und verbrachten den Rest des Abends bei der Family.
Der Sonntag sollte ebenso mit den Liebsten verbracht werden, was nach Ausschlafen und fürstlichem Frühstück zunächst eine Stadtrunde inkludierte. Winchester ist mit seinen 40.000 Einwohnern zwar nicht der ganz große Name auf der Landkarte, doch die Stadt war im 10. und 11. Jahrhundert Hauptstadt des damaligen Englands und zuvor bereits Zentrum des angelsächsischen Königreichs Wessex. Die Historie schlägt sich durch eine hohe Zahl mittelalterlicher Gebäude, Tore, Festungen und der Stadtmauer auch im Stadtbild nieder, dessen Zentrum vom gigantischen Dom geprägt wird. Pilgerstätte von vielen Londonern am Wochenende, die die Sehnsucht nach einer echten „Altstadt“ in die schmalen Gassen treibt.
Dazu noch die vorweihnachtliche Zeit und schon platzte die High Street aus allen Nähten. Auch der Weihnachtsmarkt, der hier im „deutschen Stil“ betrieben wird, schreckte mit einer halbstündigen Wartezeit am Einlass (!) eher ab, doch mit Ortskundigen konnten wir via Hintereingang zumindest einen kurzen Blick auf die Stände werfen. Holzbuden ja, aber noch mehr Kommerz als in der Heimat. Dazu freche 8€ für weniger als 0,2L Glühwein. Da hielt es uns nur so lange wie nötig, ehe es zum zweiten Teil des Tages ging: Polo-Training auf dem Reiterhof. Very British. Somit sich hier mit hochgetakelten Damen unterhalten, die Eins zu Eins aus einem Harry Potter Film entsprungen sein konnten und den Jungs auf dem Feld beim Kampf um den Ball zugeschaut. Selber spielen wollte ich nicht, dafür flößen mir die braunen Viecher zu viel Respekt ein, um mit ihnen im Kontaktsport aktiv zu werden. Abends nochmal in großer Runde gespeist und Montag via Heathrow zurück in die Heimat. Ereignisreiche Tage und mit das Beste, was man derzeit machen konnte. Nächstes Jahr geht’s sicherlich wieder auf die Insel!